Was für ein Tag! Um 4.30 erwartet uns das Taxi vor der Tür. Wir haben beschlossen, Taita Édgar Orlando Gaitán Camacho zu besuchen, den wir 2008 bei einer Zeremonie mit der heiligen Medizin, die sie hier Yagé (Ayahuasca) nennen, kennengelernt haben. Er hat uns damals sehr beeindruckt in seiner Art, wie er mit den Menschen umgegangen ist, die jemanden in der Familie durch Gewalt verloren haben. Viele Jahre hat er Zeremonien mit der Urwaldspflanze Ahuawasca geleitet, die sie hier Jahe nennen. Seitdem hatten wir regelmäßig Kontakt zu ihm und haben ihn jedes Mal besucht, wenn jemand von uns hier war. Viele von uns haben an seinen Zeremonien teilgenommen. Er hat uns auch mit einer Musikantengruppe am Global-Grace-Day 2010 besucht. Ich habe das erste Mal vor unserer ersten Kolumbienreise mit ihm Kontakt aufgenommen, da ich gelesen hatte, dass er den Alternativen Friedensnobelpreis 1990 erhalten hat und sich sehr für die Gerechtigkeit und Gewaltfreiheit im Land einsetzt, vor allem für die Campesinos und die Indigenen dieses Landes.
Er wurde 1958 in der Region Carare-Opón in Magdalena Medio, Provinz Santander, Kolumbien, geboren, und verbrachte seine Jugend in den Bergen von Carare, wo er von seiner Großmutter Salomé, einer der letzten Vollblut-Carare, den Gebrauch der traditionellen Medizin erlernte. Früh wurde er mit der Gewalt konfrontiert und begann sich für gewaltfreie Initiativen einzusetzen und wurde auch bald, durch seine charismatische Ausstrahlung unterstützt, zu einer leitenden Kraft im gewaltfreien Kampf gegen Paramilitär, Farc und Geruilla. Er verfolgte einen Einsatz, der sich gegen jede Art von Gewalt zur Wehr setzte und er versuchte, die indigenen Methoden der Gemeinschaftsbildung wieder ins Bewusstsein zu rufen. Als Kind und junger Mann reiste er mit seiner Familie ausgiebig durch die ländlichen Regionen Kolumbiens, wo er Kenntnisse und Erfahrungen mit traditionellen pflanzlichen Arzneimitteln, einschließlich Ayahuasca, und den kulturellen Praktiken ihrer Anwendung erhielt. Später wurde er bei indigenen Schamanen in den Provinzen Putumayo, Caquetá und Chocó ausgebildet.
Irgendwann begann der interne Kampf gegen ihn. Bis heute gibt es eine große Anhängerschaft, die voll hinter ihm steht.
Eine junge Frau klagte ihn wegen sexuellem Übergriffs an. Dem schlossen sich weitere Frauen an. Im Dezember 2019 wurde er zu 29 Jahren Haft verurteilt, doch aufgrund eines Verfahrensfehlers wurde dieses Urteil im vergangenen Oktober aufgehoben und seine Strafe wurde auf 19 Jahre reduziert. Jetzt gehen Verhandlungen weiter. Neun Frauen konnte man Falschaussagen gegen ihn nachweisen, deswegen wird das ganze Verfahren neu aufgegriffen. Es ist in diesem Tagebuch nicht der Ort, um uns über die Hintergründe seiner Verurteilung auseinanderzusetzen. Das sexuelle Thema und die Beendigung der sexuellen Gewalt ist eines der heißesten Themen unserer Zeit und es ist herausfordernd herauszufinden, was wirklich die Wahrheit ist. Soweit ich es bis jetzt herausfinden konnte hat er jedenfalls keine Gewalt angewendet, hat auch niemanden zu etwas gezwungen, er hat aber möglicherweise zu wenig Kenntnis davon gehabt, wie sehr junge Frauen auf ihn projizieren und wie sehr dies im Bewusstsein eines Schamanen sein muss. Hier spielen so viele psychologische Faktoren mit, die oft undurchschaut bleiben, Projektionen aller Art, aber auch Vorurteile und moralische Voreingenommenheiten prägen die Interpretationen, so dass wir seit langem wissen, dass man nicht einfach glauben kann, was die Medien berichten. Ich richte meine Anklage kaum noch gegen einzelne Täter, sondern gegen ein falsch organisiertes soziales System, gegen ein Liebessystem, in dem die Wahrheit und Schönheit zwischen den Geschlechtern verschwiegen werden musste und in dem die Unterdrückung der Sexualität, eine ursprünglich reine Quelle, zu vielen Misshandlungen und Gewalttaten geführt hat. Aufklärungen zu schaffen und eine System des Vertrauens aufzubauen, wo die Wahrheit ans Licht kommen kann, halten wir allerdings für extrem wichtig.
Das Thema, wer ist Opfer, wer ist Täter, ist ein heikles Thema. “Me too” – wer von uns Frauen könnte es nicht in seiner Erlebniskette aufführen, Situationen, wo wir uns sexuell missbraucht fühlten, wo wir von Angst bedrängt den Übergriffen von Männern ausgeliefert fühlten und wo wir nicht in der Lage waren unsere klaren Grenzen zu setzen. Ein großer Teil von sexueller Vergewaltigung wird nie das Licht der öffentlichen Welt erblicken. In diesem Sinn ist es wichtig, dass endlich kommt ans Licht, was so lange im Verborgenen stattgefunden hat. Aber kommt wirklich die Wahrheit ans Licht? Wir wissen heute, dass die ganze Metoo-Debatte auch politisch missbraucht wird, vor allem von rechtspolitischen Aktivisten, so wird ein ursprünglich heilendes Anliegen missbraucht. Auf diese Weise wird das vielleicht ursprüngliche Ziel verfehlt, sexuelle Gewalt zu verhindern und mehr Humanisierung und Schutz für Gewaltverbrechen an Frauen und Kindern zu erreichen. Stattdessen wird das Feuer des Hasses und des Misstrauens zwischen den Geschlechtern eher erneut geschürt.
Persönlich habe ich Taita Orlando als sehr vertrauenswürdigen und engagierten Menschen kennengelernt, genügend Grund, um im Namen von GRACE in Kontakt mit ihm zu bleiben und möglicherweise einen Beitrag zur Lösung leisten zu können. In gewisser Weise sind wir alle Opfer eines fehlgelenkten Systems. Ich schließe mich nie einfach dem Urteil anderer an, ohne es zu hinterfragen. Gott sei Dank steht Andrea mit viel Kraft und Präsenz an meiner Seite. Ohne sie wäre dieser Schritt unmöglich gewesen. Gemeinsam haben wir beschlossen, uns nicht von dem Gestrüpp der Medienkriege einfangen zu lassen, sondern mit Orlando Gaitan persönlich Kontakt aufzunehmen. Das Treffen hat uns so bewegt, dass ich wohl die Aufgabe annehmen muss, mich damit tiefer zu befassen. Im Folgenden nenne ich ihn einfach Taita, viele sprechen auch vom Grossvater, Abuelo, über ihn.
Eines unserer größten Anliegen ist die Beendigung der Gewalt im Bereich von Liebe und Sexualität, deswegen werden wir selbst herausfinden müssen, was wir hier für wahr halten. Eines ist auf jeden Fall klar, dass der Fall vom Taita für ganz andere politische Hintergründe genutzt wird und nur wenige daran interessiert sind, um im humanen Sinn die Wahrheit herauszufinden. Wir haben beschlossen, seine eigene Einschätzung der Lage zu hören, um herauszufinden, ob und wie wir helfen können. Es wurde ein Tag, der seine tiefen Eindrücke in unseren Seelen hinterlassen hat, den wir so schnell nicht vergessen werden. Am Abend kann ich nicht einschlafen – ich muss sprechen. Das habe ich mir bereits als Kind geschworen: Nicht zu schweigen, wenn ich Ungerechtigkeiten sehe. Hierbei geht es mir nicht in erster Linie um Taita, sondern insgesamt die Eindrücke eines Gefängnisses aufzunehmen und zu verarbeiten.
Es wurde uns empfohlen, bereits in der Nacht anzureisen, damit man nicht zu lange in der Schlange stehen muss. Zwei Frauen, die Teil seiner Gemeinschaft sind, begleiten uns, ohne sie hätten wir es wahrscheinlich nicht geschafft, bis zu ihm zu kommen.
Um fünf Uhr stehen wir vor den Toren des Gefängnisses für politische Gefangene, ein riesiger Gebäudetrakt. Im Hintergrund die vom ersten Morgenlicht leicht leuchtenden Berge, eine magische Kulisse. Eine Frau begrüßt uns, sie hat wohl auf Bitte der Frauen hin seit ein Uhr nachts für eine kleine Bezahlung für uns in der Schlange gestanden, damit wir nicht zu lange warten müssen. Hunderte von Frauen, zum Teil mit Kindern, stehen vor den Toren und warten auf Einlass. Manche haben dort auf Isomatten die Nacht zu verbracht.
Eine Frau, Verkäuferin an einem kleinen Kiosk für Tee und Süßigkeiten, hat einen Tresor bei sich. Wir werden aufgefordert, unsere Sachen abzugeben: Taschen, Schals, Geldbeutel, Handy, Schmuck. Wir dürfen nur den Pass dabeihaben, keinerlei Metall an den Kleidern oder Schuhen, auch keine Metallstützen am Büstenhaltern. Geschickt und wendig, fast unbemerkt zieht Andrea ihren BH unter den Kleidern aus, das habe sie schon oft gemacht, sagt sie lachend. Die Frau vom Kiosk verschließt unsere Dinge in einem kleinen Schrank. Es ist eine Vertrauensübung, alle die Dinge einer wildfremden Frau zu übergeben und wir wenden unseren Kraftsatz an: “Schicke Vertrauen voraus und berühre erst dann.”
Ich kann an mir selbst beobachten, wir ein Feld des Misstrauens hier alles durchzieht und man sich richtig dagegen wehren muss. Misstrauen schleicht sich blitzschnell ins Unterbewusste ein. Es beherrscht das Feld. Man schaut 10-mal mehr auf seine Handtasche als normal, fast unbemerkt zieht ein Schreck ein: “Wo ist mein Handy, wo ist mein Geld?” Ich schaue in das Gesicht der Frau und weiß, dass ich ihr Vertrauen schenken will und werde.
So stehen wir in der Schlange, dicht an dicht.
Uns ist es etwas unangenehm, dass wir weiter nach vorne können in der Schlange, nur weil wir etwas Geld dafür bezahlt haben, was andere nicht können. Ich weiß aber auch, dass wir ohne das nicht zu Taita kommen werden. Das Einzige, was wir noch bei uns haben, ist der Pass und eine Maske.
Man wird ständig von hinten und vorne geschoben. Jede will die erste sein, was die Sache nicht leichter macht. “Online-sein” ist jetzt ein absolutes Muss. Eine Frau, die uns am Anfang laut beschimpft hat, wandelt sich nach einiger Zeit zu unserer “Freundin.” Es war unsere ruhige Art auf sie zu reagieren, was ihr Stimmung verwandelt hat. Ab jetzt gibt sie uns dauernd freundliche Zeichen. Vor mir eine Mutter mit ihrem Sohn. Der Sohn behandelt sie so liebevoll, man hat den Eindruck, dass er jetzt schon, etwa 10 Jahre alt, seine Mutter vor allem Übel beschützen will.
Plötzlich ein hysterisches Kreischen, dass sich durch die Schlange bewegt. Der Anlass, eine Ratte! So ein kleines unschuldiges Tierchen kann eine Massenhysterie auslösen!
“Alles ist Wasudeva! Das wird der Kraftsatz für diesen Tag”. Ein weiterer Satz, der uns Orientierung gibt: “In Gott gibt es kein Warten.” Stunde um Stunde von einer Wartereihe in die nächste.
Jeder bekommt einen Stempel. Ich bekomme die 55 auf meinen Arm gestempelt. Nach ca. zwei Stunden haben wir es geschafft bis zur Passkontrolle. Der Wärter findet unsere Nummer nicht und sagt, dass wir nicht rein können. Wir bleiben still und düsen. Irgendwie wissen wir im Innern, dass wir reinkommen werden. Irgendwann entdeckt er den Fehler, jemand hat eine falsche Passnummer in die Maschine eingegeben. Wir dürfen rein, “nur für dieses Mal,” sagt er.
Die nächste Schlange. Jetzt werden wir eingeteilt in verschiedene Bereiche, je nachdem in welchen Gefängnistrakt wir müssen. Irgendwann stellt sich raus, dass unsere ganze Linie in einer falschen Schlange steht. Alle wechseln über in die nächste Reihe. Kreischen geht durch die Menge. Rechts neben uns eine Schlange, wo sich ein kollektiver Aufruhr entwickelt. Es ist kurz vor einem Handgemenge. Zwei Frauen vorne beginnen aufeinander einzuschlagen. Wir bleiben in einer sehr ruhigen Frequenz und man hat den Eindruck, dass wir damit eine beruhigende Wirkung auf das Ganze haben. Auch die beiden Frauen, die mit uns hier sind, haben eine sehr schöne und ruhige Frequenz.
Massenzusammekünfte sind für mich die herausforderndste Aufgabe, um hier wirklich ruhig und zentriert bleiben zu können.
Mitten im Gespräch, als wir über die Suche nach der Friedenskraft im eigenen Innern sprechen, bricht eine von ihnen in Tränen aus. Sie hat ihr drei Monate altes Baby verloren. Es hat eine Infektion bei einer Behandlung in der Klinik bekommen und ist daran gestorben. „Eine Herausforderung, etwas über den tieferen Hintergrund von Frieden zu verstehen”, sagt sie. “Das Leben nimmt uns alle in die Schule.”
Schließlich stehen wir unmittelbar vor dem Gebäude, wo der Taita untergebracht ist. Er lebt mit drei anderen in einer Zelle. Graue Wände vor uns, nur mit kleinen Schlitzen, durch die Licht eindringen kann. Dort hängen kleine Wäscheteile raus, ab und zu sieht man ein Gesicht hinter der Öffnung. Bis hierher haben wir fünf Stunden gebraucht.
Wir alle müssen uns auf Stühlen niederlassen und ein Wärter mit einem Hund untersuchen, ob wir irgendwelche Drogen reinschmuggeln. Immerhin geht er liebevoll mit dem Hund um. Dann kommen die Durchleuchtungen und schließlich müssen wir auch noch den Pass abgeben. Ich erhalte die Nummer 44. (Mich begleiten auf dieser Reise die Doppelzahlen – 55 – die Fülle – 44 das Empordringen im I Ging – dem alten chinesischen Weisheitsbuch).
Wir gehen durch die Betonflure, steigen einige Treppen und oben steht schon der Taita und empfängt uns. Er sieht aus wie immer, hat nur mächtig abgenommen. Er ist begleitet von seinen “Kumpels”. Eine sehr herzliche Umarmung. Ich fühle, was für eine tiefe Treue ich empfinde zu Menschen, die ich einmal “gesehen” und in mein Herz geschlossen habe. Ich fühle, dass es Andrea genauso geht.
Wir gehen durch den großen Saal, wo sie einen der Betontische mit Tischdecken hergerichtet haben. Wir haben viel zu Essen mitgebracht, das man am Eintritt erwerben konnte. Im Saal sind Luftballons aufgehängt für die Kinder. Überall begrüßen die Häftlinge ihre Frauen und Kinder. An den Seiten liegen Matratzen und viele legen sich erst einmal auf die Matratze und halten sich in den Armen. Es ist enorm bewegend dieses ganze Klima mitzubekommen. Viele von ihnen sind lebenslänglich hinter Mauern. Es sind vor allem politische Gefangene aber auch Drogenhändler.
Taita erzählt viel über seinen eigenen Durchlauf. “Mein Leben hört nicht dadurch auf, es ist auch nicht dadurch ruiniert, dass sie mich hinter Mauern bringen. Ich mache meine Arbeit, wo immer ich bin, ich tue das, woran ich glaube. Ich komme gut aus mit den Genossen, mit denen ich meine Zelle teile, auch mit einigen Wärtern. Viele hier holen sich den Respekt dadurch, dass sie in anderen Angst erzeugen, andere durch Geld, und wieder andere, indem sie Anteil nehmen und sich vertrauenswürdig verhalten.”
Das scheint ihm gelungen zu sein. Seine Kumpels kommen immer wieder und fragen, ob wir etwas brauchen. Mit großer Hingabe bedienen sie uns. Man merkt ihnen an, dass sie den Taita lieben und verehren. Er hat nach wie vor große Hoffnung, dass er wieder in die Freiheit kommt. Er erzählt in vielen Gleichnissen und Andrea hat eine große Aufgabe, das alles zu übersetzen. Manches ist so speziell, dass es für sie nicht immer leicht ist. Es läuft so vieles gleichzeitig, all das aufzunehmen, dem Gespräch zu folgen und dann auch noch zu übersetzen, das ist eine Meisterklassenprüfung.
Im Grunde laufen die Aussagen vom Taita immer wieder auf die gleiche Kernaussage hinaus: “Wir sind hier, um zu lernen. Der Geist interpretiert ständig, er denkt immer in Trennungsmustern. Dahinter aber ist eine göttliche Realität, wo nichts Getrenntes existiert. Wir sind hier um Wut, Angst, Ärger zu transformieren und die Einheit allen Seins zu akzeptieren und zu verstehen. Solange wir identifiziert reagieren, erzeugt es ganz viel Leiden in uns und in anderen. Das Leben selbst aber ist auf Freude ausgerichtet, auch wenn wir Dunkelzonen durchlaufen müssen. Alles, was wir anderen antun, kommt auf uns selbst zurück. Das Universum hilft uns, dies zu sehen und zu verstehen. “
Das sind jetzt meine Worte, ein Versuch, das wiederzugeben, was ich als Essenz verstanden habe.
Auffallend ist, dass er den Humor keineswegs verloren hat. Oft ist sein Lachen so mitreißend, dass wir alle mit lachen müssen. Er sagt, dass es am Anfang keineswegs leicht für ihn war, aber dass er jetzt hier seine Akzeptanz gefunden hat und auch hier seine Heilungsarbeit weiter tun kann. Die meisten sind ihm gegenüber sehr wohlwollend und so bekommt er immer wieder Dinge erlaubt, die ihm das Leben ein wenig erleichtern. Er darf inzwischen auch hier Patienten behandeln.
Er schildert uns einen normalen Alltag. Alle Häftlinge bekommen Arbeit angeboten. Wenn sie sich während der Arbeit wirklich gut verhalten, kann es zu einer Reduktion der Strafe kommen. Das sei für viele eine hohe Motivation. Für andere, die zu lebenslanger Haft verurteilt sind, hat das gar keine Bedeutung. So kommt es hinter den Kulissen oft zu plötzlichen Gewaltausbrüchen. Es kommt auch zu merkwürdigen Freisprüchen, die nur durch viel Geld der Mafia bewirkt werden konnten.
Er glaubt bei sich selbst daran, dass es hohe Chancen gibt, dass das Urteil gegen ihn aufgehoben wird und er freigesprochen wird. Er setzt hier auf die neue Regierung, die versucht, Gerechtigkeit in die Justiz zu bringen. Ich möchte hier nicht weiter eingehen auf die Pros und Contras, bevor ich nicht gründlicher recherchiert habe, aber alles, was er erzählt, erscheint uns sehr glaubwürdig. Er sagt, dass manche Dinge so aus ihrem Zusammenhanggerissen wurden, dass man sie gegen ihn verwenden konnte und dass es zu vielen Falschaussagen kam. Jetzt müsse der Prozess neu aufgerollt werden. Er spricht immer wieder von einer Frau, die gegen ihn kämpft, da sie seine Frau werden wollte. Er habe ihr wiederholt gesagt, dass er das weder sein wolle noch könne. Sie würde jetzt sehr negativ gegen ihn vorgehen. Er habe viele Freunde, die wissen, welche Arbeit er wirklich macht und so rechnet er damit, dass Hilfe kommen wird. Am 4. Dezember wird es voraussichtlich ein Treffen geben, wo Menschen aus der jetzigen Regierung zu ihm ins Gefängnis kommen und es eine Art Anhörung geben wird. Er bittet darum, dass wir für ihn beten. Er hat auch sehr darum gebeten, dass Andrea und ich mit einer entsprechenden Übersetzung via Zoom bei diesem Treffen dabei sein können.
Er möchte uns alle Dokumente der Verhandlungen zukommen lassen, damit wir uns ein intimeres Bild verschaffen können. Ich muss dafür vorher ein sehr direktes Gespräch mit ihm führen, um mehr zu verstehen, was wirklich vorgefallen ist.
Etwa um drei Uhr verlassen wir das Gefängnis, wir sind erschöpft, bewegt, hinter unseren Augen drückt ein Tränenmeer, das ganze Flüsse füllen könnte.
Ein innerer Aufschrei! Dieser Aufschrei gilt einem System, in dem wir leben, in dem es keinen Ausweg gibt. Ohne den Aufbau von Vertrauen und Gemeinschaft als Humus für die Kräfte des Lebens wird es wohl keinen Ausweg aus der Sackgasse geben. DA liegt noch viel Arbeit vor uns. Tao ist der Weg, den wir nicht mehr verlassen können. Der Weg, den wir verlassen können, ist nicht Tao.