Zurück in Bogota. Wir kommen uns vor, als seien wir in einem Film gewesen. Die Wechsel sind recht schnell und unsere Seele muss verdauen.
Dazu hat uns heute das Gespräch mit dem Padre Javier Giraldo geholfen. Er ist so etwas wie die Vaterfigur von der Friedensgemeinschaft, dem sie absolutes Vertrauen schenken. Er war intimer Freund von Eduard Lancheiro und hat ihnen dazu verholfen, die Friedensgemeinschaft zu gründen.
Nach dem schrecklichen Massaker im Februar 2005 beschloss die Gemeinschaft, keine Beziehungen mehr zum kolumbianischen Justizapparat zu unterhalten, es sei denn, dieser würde seine Fehler eingestehen, sie korrigieren und um Vergebung bitten. Der Justizapparat hatte häufig die Rechte der Gemeindemitglieder verletzt, Strafverfahren mit falschen Zeugen eingeleitet und vor allem für absolute Straflosigkeit bei Hunderten von Verbrechen gesorgt, die der Staat gegen die Gemeinde begangen hatte. Es gab keine Gerechtigkeit. 2010 lief ein Prozess gegen zehn hochrangige Militärs. Sie waren angeklagt, an dem Massaker in der Friedensgemeinde San José de Apartadó im Februar 2005 beteiligt gewesen zu sein. Immer wieder bewahrheiteten sich die Befürchungen, dass es zu einem straffreien Ausgang für die Angeklagten in diesem Prozess kommt.
All die Jahre hat der Padre sein Leben der Aufklärung der Ungerechtigkeiten gewidmet, er kennt alle Fälle, wo Menschen gegen die Friedensgemeinschaft agiert haben, im Detail und verbringt einen grossen Teil seiner Zeit in Bogota, um sich für die Wahrheit und die Gerechtigkeit einzusetzen.
Der Padre ist Jesuit, er lebt in einem Kloster in Bogota, arbeitet eng mit Gloria Guartas zusammen und hat gerade ein neues Buch herausgegeben: “Das Keuchen vom Grund des Sumpfes,” wo er deutlich macht, wie korrupt das System und vor allem das Justizsystem ist. “Nie wieder arbeite ich mit dieser Justiz zusammen,” sagte er und überreichte uns das Buch, das gerade vor drei Tagen fertig geworden ist. Das neue Buch ist so etwas wie sein Lebenswerk, das die Korruption des gesamten Gerichtssystems gründlich aufdeckt.
Padre ist ein sehr bescheidener Mann, ist 78 Jahre alt, äusserlich kaum gealtert, lebt vegan und ein grosser Teil seines Lebens besteht darin, dass er den Armen und Misshandelten im Land Mut und Hoffnung gibt. Das gibt auch ihm selbst die Kraft, die er braucht. “ Sabine, kein bisschen verändert,” sagt er lachend als er mich zur Begrüssung umarmt. Ich empfinde eine tiefe stille Liebe zu ihm.
Padre erzählt uns in bewegenden Worten, wie sehr der Betrug der letzten Jahre von Regierung und Farc den Friedensprozess geblockt hat und viele die Hoffnung vollkommen verloren haben.
Es sind Wahrheitskommissionen unterwegs, aber das sogenannte Friedensabkommen war auf allen Ebenen ein Desaster. Präsident Santos war in der internationalen Welt “der Friedenspräsident”, nicht aber im eigenen Land. Laut Erkenntnissen der Kommission gehen 45 Prozent der Toten auf das Konto der rechtsextremen Paramilitärs, deren Taten oft von der regulären Armee (12 Prozent) gedeckt wurden. Betrogen fühlt man sich auch von Iván Márquez. Er war jahrelang einer der Anführer der Farc-Guerilla, die nach dem Friedensabschluss mit der Regierung 2016 offiziell die Waffen abgegeben hat und stattdessen zu einer Partei wurde. Márquez leitete ab 2012 die Friedensdelegation der Farc-EP bei den Verhandlungen mit der Regierung Santos und ist inzwischen offiziell zusammen mit anderen Farc-Kommandanten 2019 zum bewaffneten Kampf zurückgekehrt. Ob dies wirklich „eine Reaktion auf den Verrat des Staates an dem Friedensabkommen von Havanna“, war, wie sie erklärten oder eine von Anfang an geplante Irreführung, weiss ich nicht. Man vermutet das zweite. Auf jeden Fall ist damit die grosse Vision, dass es zu einer sozialen Revolution kommen wird und San José eine Art Ausbilundgszentrum für den Aufbau dezentraler Friedensmodelle, die wir zusammen mit der Friedensgemeinschaft in unseren Herzen hielten, schwer enttäuscht worden.
Und jetzt kommt auf einmal ein neuer Präsident und will alles noch einmal neu aufrollen?
Es ist leicht verständlich, dass man wohl gerne glauben möchte, dass es jetzt anders wird, aber auch erschöpft ist von den vielen Falschmeldungen. In einem Interview mit dem PBI sagt Padre auf die Frage, ob er noch Worte der Hoffnung habe: “Die Atmosphäre, in der die Gemeinschaft lebt, zeigt deutlich, dass wir einer sehr herausfordernden Situation gegenüberstehen, aber das Herz der Gemeinschaft ist bereit, sich dem zu stellen, so wie wir es immer tun.”
So gibt Padre einfach nie auf und macht sein Handeln nicht abhängig von der Frage, ob sie Erfolg haben werden oder nicht. Er tut einfach, was zu tun ist und er tut es in Hingabe und grosser Gründlichkeit.
Etwas verschmitzt erzählt er uns von seinen Plänen. Er ist befreundet mit dem derzeitigen Verteidigungsminister Iván Velásquez und hat ihm natürlich viel erzählt von der Friedensgemeinschaft. Iván Velásquez hat ihm vorgeschlagen, die Friedensgemeinschaft zu besuchen.
Die Friedensgemeinschaft führt darüber viele Gespräche, ob sie es machen wollen, oder nicht.
Für sie ist die absolute Bedingung, dass der Minister ohne bewaffnete Begleitung kommt und ohne Bodyguards. Es geht um die Frage, ob sie die von der Regierung angebotenen Handreichungen nutzen können. Gibt es eine Chance für Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung in Bezug auf die zahllosen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Region und lassen diese sich aufklären? Immerhin geht Gustavor Petro in seinen Forderungen so weit, dass er öffentlich gesagt hat: Die Streitkräfte von Kolumbien müssen zu einer „Armee des Friedens“ werden. Das erinnert an unsere Forderung in Palästina/Israel: Verwandelt die Miltärstationen in Friedensfoschungsstationen. Meint er, was er sagt? Padre gehöt auch zu denjenigen, die daran glauben, dass die neue Regierung eine gewaltige Transformation einleiten könnte, weiss aber auch, mit wievielen Gegenkräften sie rechnen müssen. Dies wäre ein gewaltiger Umbruch, es käme einem Wunder gleich, wenn es dieses Mal gelänge, aber vielleicht geht ja eine soziale Revolution mit einer kosmischen Wandlung Hand in Hand?.
Es geht jetzt um die Frage: Glauben sie daran, dass diese Forderungen ernst gemeint sind und eine Chance auf Verwiklichung haben? Wenn das Treffen mit dem Verteidigungsminister zustande kommt, möchte der Padre sich anschliessend gemeinsam mit Iván Velásquez dem Chef der 17.Brigarde , Vertretern der Friedensgemeinschgaft und dem Verteidigungsminister in einem Haus des Bischofs treffen und ihn auffordern, sich zu den Vorwürfen zu äussern. Das alles könnten zentrale Schritte sein, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.
Selten habe ich mich so tief mit der politischen Situation eines Landes befasst, selten habe ich die Möglichkeit von weiteren Gewaltverbrechen und die Hoffung auf eine eine radikale Wandlung so nah beieinander gesehen. Man will nicht Zeuge davon sein, dass sie noch einmal in eine Falle laufen und hintergangen werden, und gleichzeitig fühlt man die Möglichkeit eines tatsächlichen Wandels sehr nah.
Politisches Denken und spirituelles Handeln müssen zusammen kommen. Dazu braucht man manchmal eine Portion bewusst gewählter Naivität, darf aber dennoch auch nicht blind in eine Falle laufen.